1913-06-23-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 14079
Zentraljournal: 1913-A-12801
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 06/23/1913
Praesentatsdatum: 06/27/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 197
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



No. 197.

Therapia, den 23. Juni 1913

Den Anstoss zur Ausarbeitung des armenischen Reformprojekts vom Jahre 1895 gaben die im Jahre 1893 beginnenden Unruhen und Armeniermassacres in Anatolien.

Die Ursachen dieser Unruhen waren: Bedrückung der christlichen Armenier durch die mohammedanische Bevölkerung, Ausschreitungen der kurdischen Hamidje-Regimenter und Uebergriffe der Steuerbeamten. Provokationen seitens der Armenier scheinen in dieser Zeit nicht vorgefallen zu sein, doch war natürlich viel Haß und Mißgunst gegen sie aufgespeichert, der nun spontan zum Durchbruch kam. Zunächst begnügten sich die Vertreter der Großmächte in Konstantinopel mit Berichten an ihre Regierungen und Ratschlägen an die Pforte.

Die Gemetzel im Bezirk von Sassun im August 1894, bei welchen Tausende von Armeniern durch türkische Truppen niedergemacht, ganze Landstriche entvölkert wurden, brachten endlich den Stein ins Rollen. England, Russland und Frankreich verständigten sich darüber, die Vorfälle durch eine an Ort und Stelle entsandte Kommission untersuchen zu lassen und ein Reformprojekt für die Verwaltung der "6 Provinzen" (die Vilajets Erzerum, Wan, Bitlis, Kharput, Siwas und Diarbekr) auszuarbeiten.

Die Untersuchungskommission stellte fest:

Ueber den Reformplan kam es zu langen Verhandlungen zwischen den beteiligten Mächten. Schließlich einigte man sich auf ein Programm mit folgenden Hauptpunkten: Am 11. Mai wurde das Reformprogramm der Pforte übergeben.

Sultan Abdul Hamid, welcher schon während der Vorverhandlungen alles versucht hatte, um die Entente der drei Mächte zu sprengen, verstand es, durch allerlei Winkelzüge die Wirkung des Reformprogramms abzuschwächen und seine Ausführung zu vereiteln. Annehmen mußte er das Programm, aber bei der Veröffentlichung wurden die Paragraphen, welche von der Kontrollkommission und den Rechten der Botschafter dieser gegenüber handelten, weggelassen, um "die Gefühle der schon stark erregten Muhammedaner zu schonen."

Die ganze Verschleppungstaktik hätte dem Sultan aber kaum etwas genützt, wenn nicht andere Umstände ihm zu Hülfe gekommen wären:

Mit dem Augenblick, wo die armenische Frage angeschnitten wurde, trat nämlich in der Türkei statt einer Verbesserung der innerpolitischen Verhältnisse eine derartige Verschlimmerung ein, daß in vielen Gegenden Anatoliens geradezu Anarchie herrschte. Ueberall fanden Armenienmassakres in einem solchen Umfang statt, daß die Vorgänge in Sassun, welche den Anstoß zum Einschreiten der Mächte gegeben hatten, dagegen das reine Kinderspiel waren. Man neigte damals dazu, dem Sultan allein die Schuld für diese Greuel in die Schuhe zu schieben. Zweifellos aber haben sie die Armenier durch ihr provokatorischen Auftreten zum großen Teil selbst verschuldet. Die Demonstration vor der Pforte am 30. Oktober 1895, welche zu den großen Konstantinopler Massacres führte, war in der ausgesprochenen Absicht unternommen, blutige Zwischenfälle zu provozieren und so die Blicke Europas von neuem auf die armenische Frage zu lenken. Bis dahin hatten sich die Armenier aus Furcht vor ihren türkischen Herren sehr zurückhaltend benommen. Jetzt konnte man vielfach beobachten, daß sie die Maske abwarfen, daß ihre geheimen politischen Organisationen in die Oeffentlichkeit traten und allerhand radikale und unerfüllbare Forderungen aufstellten, da sie sich durch England gedeckt glaubten. Man vergaß, daß Englands Macht nicht in das Innere Anatoliens reichte, und so konnte es nicht ausbleiben, daß die Armenier zu Tausenden der Rache der empörten und durch die Behörden noch künstlich erregten Muhammedaner zum Opfer fielen. Meist ließen sie sich fast widerstandslos, wie die Schafe hinschlachten. Nur in Zeitun im Vilajet Aleppo rafften sie sich zu einer energischen Verteidigung auf, widerstanden drei Monate lang den zehnfach überlegenen türkischen Truppen, bis durch die Vermittelung der europäischen Konsuln in Aleppo ein für die Zeituner vorteilhafter Vergleich zustande kam.

Merkwürdigerweise waren es gerade diese Vorgänge, welche die Einführung des Reformplanes hintertrieben. Lord Salisbury drang zwar angesichts der großen Erregung in England mit vieler Energie auf seine sofortige Durchführung und drohte sogar mit einer Flottendemonstration. Russland dagegen, welches die ganze Aktion wohl hauptsächlich deshalb mitgemacht hatte, damit England nicht allein vorginge, hintertrieb im Verein mit Frankreich alle Massregeln, welche den Sultan zur Durchführung der Reformen hätten zwingen können. Beide Mächte beobachteten sogar mit einer gewissen Schadenfreude, wie sich England immer mehr in die armenische Sackgasse festrannte. So äusserte der französische Botschafter in London, Baron Courcel: Lord Salisbury est comme un de ces gros chiens doux qui n'aiment pas à mordre, mais auxquels la nature de leur dentification ne permet plus de lâcher prise, une fois qu'ils ont mordu.

Am 17. Januar bat die Königin von England durch ein eigenhändiges Handschreiben an den Sultan um Gnade für die Armenier, worauf der russische Botschafter in Kospoli, Nelidoff, meinte, das Gnadengesuch gelte wohl weniger den Armeniern, als England selbst zur Rettung aus seiner verfahrenen Situation. England war schließlich froh, den bescheidenen Erfolg des Zeituner Vergleichs dazu benutzen zu können, um die armenische Frage klanglos zu begraben.

Interessant ist es, daß Russland, selbst während des gemeinsamen Vorgehens mit Frankreich und England, offenbar nie aufhörte, hinter den Coulissen mit dem Sultan zu verhandeln, um aus dessen Verlegenheiten Sondervorteile für sich herauszuschlagen:

Im Januar 1996 teilte der englische Botschafter in Berlin uns im Auftrage seiner Regierung mit, der Sultan habe sich an den Zaren mit der Bitte um Hülfe gewandt, und dieser habe geantwortet, er sei bereit, für die Sicherheit des Sultans zu garantieren, ihm finanzielle Unterstützung zu leihen und sogar einen Teil der Schuld aus dem russisch-türkischen Kriege zu erlassen, falls ihm das Recht eingeräumt würde, die 6 ostanatolischen Provinzen für 10 Jahre zu besetzen (Erlaß Nr. 24 vom 19. Januar 1896).

Es ist gut, sich angesichts der bevorstehenden Konferenz solche Vorgänge und das klägliche Fiasko der ganzen armenischen Reformaktion vom Jahre 1895 ins Gedächtnis zurückzurufen, damit diesesmal der Anlauf der Großmächte ein andres Resultat zeitigt, als Unruhen und Massacres in der Türkei, Intrigen und egoistische Interessenkämpfe unter den Großmächten.


Wangenheim



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