1911-10-27-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 1913
Zentraljournal: 1911-A-17274
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 10/27/1911 05:30 PM
Telegramm-Ankunft: 10/27/1911 07:47 PM
Praesentatsdatum: 10/28/1911 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 344
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Marschall) an das Auswärtige Amt

Telegraphischer Bericht



Nr. 344
Pera, den 27. Oktober 1911.

In einer von ihm erbetenen Unterredung hat mich Assim Bey gestern abend gefragt, ob von Rom irgend eine neue Nachricht bezüglich der Friedensbedingungen eingetroffen sei? Auf meine verneinende Antwort fragte der Minister, ob wir nicht in Rom eine Pression ausüben könnten? Ich erklärte, dass diese ausgeschlossen sei. Wir hätten ebenso wenig die Absicht, hier irgendeinen Druck auszuüben. Politische „Pressionen“ und „Vermittelung“ schlössen sich gegenseitig aus. Assim sagte mir dann, San Giuliano habe dem englischen und französischen Botschafter in Rom erklärt, dass Italien nur die Vermittelung „d’un des ses alliés“ annehme, worunter zweifellos Deutschland verstanden sei. Was solle nun geschehen, um dem Kriege ein Ende zu machen? Ich entgegnete, dass man vorläufig den Ereignissen ihren Lauf lassen müsse. Assim fragte mich dann, ob es nicht möglich sei, den Frieden auf der Basis zu schließen, dass Italien Tripolis annektiere, die Cyrenaika aber unter türkischer Herrschaft verbleibe? Ich erwiderte, dass Cyrenaika zwar die kleinere, aber die weitaus wertvollere der beiden Provinzen sei und Italien darum einen solchen Vorschlag sicher ablehnen würde. Assim Bey sprach dann über die verschiedenen Artikel hiesiger Zeitungen, die bald das eine, bald das andere Bündnis für die Türkei empfehlen. Er tadelte diese Artikel, die würdelos seien und nur schaden, aber nicht nutzen können. Nach seiner Ansicht könne man gegebenenfalls wohl eine entente spéciale mit einer Macht schliessen, eine förmliche Allianz mit einer europäischen Großmacht oder der Eintritt in die eine der Mächtegruppen, Tripelallianz oder Tripelentente, erachtete er dagegen selbst, wenn man sich über die Bedingungen verständigen könne, was unmöglich sei, als verhängnisvoll für die Türkei. Denn ein solcher Schritt der Türkei würde unfehlbar einen europäischen Krieg entfesseln und ohne Rücksicht darauf, wer den Sieg davon trage, die Türkei den Siegespreis zu bezahlen habe. Ich bemerkte ergänzend, dass die Türkei dann mindestens ihre rumelischen Provinzen verlieren und möglicherweise vollkommen zusammenbrechen würde. Assim fragte dann, welche Politik die Türkei gegenüber den Grossmächten denn eigentlich verfolgen solle? Ich erwiderte, die Politik, die ich stets hier empfohlen habe „une politique équilibre“. Deutschland verlange keineswegs, dass der türkische Pendel nach einer Seite hinneige, wir würden aber auch nicht eifersüchtig sein, wenn derselbe vorübergehend nach einer anderen Seite ausschlage. Wenn die Türkei in einigen Jahren in Armee und Flotte sowie durch Reformen im Innern gestärkt sei, werde der Moment gekommen sein, Frage neuerdings zu prüfen. Assim Bey erklärte sich damit einverstanden. „Aber man läßt uns ja nicht Ruhe, um diese Reformarbeit zu leisten“.

Vorstehende Aeusserung Assims bestätigt meine Auffassung, dass an maßgebender Stelle niemand an eine Allianz denkt. Aber unter den Worten „une entente spéciale“ könnte wohl der Gedanke verborgen sein, den tripolitanischen Konflikt mit Englands Hilfe zu begleichen.


[Marschall]



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