1909-05-18-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 13186
Zentraljournal: 1909-A-08839
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Praesentatsdatum: 05/21/1909 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 123
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Botschafter in Konstantinopel (Marschall von Bieberstein) an den Reichskanzler (Bülow)

Bericht



Nr. 123
Der Kaiserliche Vizekonsul in Haifa berichtet unter dem 10. d.M.:

„Verschiedene Anzeichen, die erst allmählich im Laufe der letzten Tage bekannt geworden sind, scheinen darauf hinzudeuten, dass die vor einige Zeit hier beobachtete Massacrefurcht der christlichen Bevölkerung doch nicht vollkommen unbegründet war. Man glaubt jetzt bestimmt zu wissen, dass die Mohammedaner in der Umgegend aufgewiegelt worden und zu den schlimmsten Ausschreitungen bereit gewesen seien; es habe zum allgemeinen Losschlagen nur das letzte Zeichen gefehlt. Auch die Leiter der deutschen Kolonie, die mir als ruhige und besonnene Männer bekannt sind, teilen heute auf Grund eigener Wahrnehmungen die Meinung, dass die hiesigen Christen einer schweren Gefahr entronnen sind. Sie sind ferner davon überzeugt, dass im Falle eines Aufruhrs die Volkswut sich mit in erster Linie gegen die Deutschen gerichtet haben würde.

Was an alledem absolut wahr ist, lässt sich schwer feststellen. Mit Rücksicht auf die neuerdings hier eingelangten Nachrichten über die Erregung in anderen Teilen des Reiches glaube ich heute, obige Gerüchte und Mutmassungen nicht ohne weiteres von der Hand weisen zu sollen. Eine auffallende Tatsache ist es vor allem, dass die Erregung in der hiesigen Bevölkerung am Sonnabend, den 24. v.M. ihren Höhepunkt erreichte, d.h. an demjenigen Tage, an welchem, den jetzt vorliegenden Zeitungsmeldungen zufolge, auch in Konstantinopel von reaktionärer Seite eine Wiederholung der Schreckenstage vom August 1896 beabsichtigt gewesen sein soll. Entspricht letztere Nachricht wirklich den Tatsachen, so wird man der heute hier allgemein verbreiteten Annahme, dass die Führer der reaktionären Bewegung in der Hauptstadt mit den Feinden des neuen Regimes in der Provinz Fühlung genommen haben, und dass der Ausbruch der Unruhen am Bosporus auch das Zeichen zum allgemeinen Losschlagen sein sollte, einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit nicht absprechen können.

Dass aber im Falle einer christenfeindlichen Bewegung die Angehörigen unserer Kolonien infolge ihrer Eigenschaft als deutsche Schutzbefohlene vor dem Los der einheimischen Christen bewahrt bleiben sollten, nehme auch ich nicht an. Die deutschen Ackerbauern und Handwerker sind schon allzueng mit den hiesigen Verhältnissen verwachsen, um nicht in den Augen ihrer arabischen Berufsgenossen an dem Prestige, das der Ausländer sonst noch geniesst, erheblich eingebüsst zu haben; auch ist zu bedenken, dass der Wohlstand, zu dem die deutschen Ansiedler durch ihrer Hände Arbeit gelangt sind, und der sich durch das schmucke Aussehen der Kolonie und den besseren Zustand ihrer Gärten und Aecker auch äusserlich von dem orientalischen Schlendrian vorteilhaft abhebt, für viele im Grunde nur ein Gegenstand blinder Eifersucht und gehässigen Neides ist. Tiefere Sympathien in den einheimischen Kreisen haben die Kolonisten aber vor Allem deswegen nicht zu erwerben verstanden, weil sie von jeher im Gefühl ihrer moralischen Ueberlegenheit dem Araber gegenüber vielleicht allzusehr den Herrenstandpunkt hervorgekehrt haben. Seitdem nun die Schlagworte von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Kopfe des einfachen Mannes arge Verwirrung hervorgerufen haben, sind, an vielen einzelnen Fällen deutlich wahrnehmbar, an die Stelle der alten Unterwürfigkeit Abwehr und Auflehnung getreten.

Angesichts des energischen Vorgehens der Saloniker Truppen und der glänzenden Erfolge der jungtürkischen Sache in Konstantinopel ist indessen an die Möglichkeit eines Ausbruchs des Volksfanatismus gerade in hiesiger Gegend meiner Meinung nach zunächst nicht zu denken. Das muselmännische Element, namentlich in Akka und in manchen Dörfern der Umgebung, macht zwar aus seinen Sympathien für Abdul Hamid kein Hehl und würde ohne Zweifel für einen reaktionären Gegenstoss sofort zu haben sein; andererseits verfügen weder Regierung noch Komitée über genügend Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Trotzdem dürfte voraussichtlich die Opposition hierzulande zunächst noch eine vorsichtig abwartende Haltung einnehmen.

Den von der Kolonieverwaltung unter Berufung auf den Ernst der gegenwärtigen Lage ausgesprochenen Wunsch, es möge seitens der Kaiserlichen Regierung der bereits in den syrischen Gewässern befindliche Kreuzer Lübeck auch zum Besuche des hiesigen Hafens beordert werden, habe ich Euerer Exzellenz bereits anderweitig befürwortend unterbreitet. Das Erscheinen der deutschen Kriegflagge vor Haifa würde die zaghafteren Elemente in der Kolonie zuversichtlicher stimmen und auch auf die einheimische Bevölkerung eine heilsame Wirkung ausüben.“


Marschall



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