1913-01-06-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14077
Zentraljournal: 1913-A-00687
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Telegramm-Abgang: 01/06/1913
Praesentatsdatum: 01/11/1913 a.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 7

Pera, den 6. Januar 1913

Der Euerer Exzellenz bereits gemeldete Versuch des Kurdenführers Abdulkadir Effendi, das Interesse der Deutschen Reichsregierung für die kurdischen Wünsche und Aspirationen wachzurufen [Für den Verteiler ist der Anfang ersetzt durch: "Die Erregung unter den Kurden".], gibt mir Anlaß, an die Vorgänge zu erinnern, die sich vor über 30 Jahren abspielten und zur Beurteilung der gegenwärtigen Lage beitragen können.

Wie heute stand die Türkei damals am Ausgang eines unglücklichen Waffenganges auf dem Balkan. Zwar war dem Besiegten die Schmach von San Stefano erspart geblieben, der Berliner Vertrag hatte aber immerhin dem Ansehen der Regierung und dem Prestige des Sultans und Khalifen erheblichen Abbruch getan. Auch in Berlin hatte der Zustand der von Armeniern bewohnten anatolischen Provinzen den Gegenstand der Verhandlung gebildet und zur Aufnahme des bekannten Art. 61 in das Vertragsinstrument geführt. Als eine Rückwirkung dieser Ereignisse kann es nur angesprochen werden, wenn sich im Jahre 1880 des Kurdenvolkes eine Bewegung bemächtigte, die alsbald die ernste Aufmerksamkeit Europas auf sich lenken mußte. Die Kurden griffen zu den Waffen, und beträchtliche Streitkräfte beunruhigten die auch von Kurden bewohnten persischen Grenzbezirke. Persien konnte sich dieser Eingriffe nur schwach erwehren. Rußland beobachtete die ganze Bewegung mit sichtlichem Mißbehagen. Seinem Einflusse und demjenigen Englands gelang es im Jahre 1881, den kurdischen Umtrieben dadurch ein Ende zu bereiten, daß Abdul Hamid sich entschloß, den geistigen Führer der Bewegung, den Kurdenscheich Obeidullah Effendi nach Constantinopel "einzuladen". Dieser traf auch im Juni 1881 ein, wurde etwa ein Jahr lang als "Gast" Abdul Hamids hier zurückgehalten, entzog sich hierauf der weiteren Gastfreundschaft durch die Flucht, wurde aber später nach Mekka gebracht, wo er kurze Zeit später verstarb.

Bemerkenswert ist, daß es damals Persien war, das die Vermittelung der deutschen Regierung in Anspruch nahm, um durch einen Druck auf den Sultan, dem ein maßgebender Einfluß auf die Kurden zugeschrieben werden konnte, die Ruhe an der persischen Grenze wiederherzustellen. Von unserer Seite wurde damals Zurückhaltung beobachtet. Der von Rußland und England ausgeübten Pression mag sich Abdul Hamid aber um so leichteren Herzens gefügt haben, als die kurdischen Bestrebungen, die im Grunde wohl auf Erlangung einer gewissen politischen Selbständigkeit gerichtet waren, ein Gefühl des Mißtrauens bei ihm auslösten, das seine natürlichen Sympathien mit dem Bedrücker des verhaßten Armeniervolkes überwog.

Dadurch, daß Abdul Hamid sich der Person des Obeidullah bemächtigte, hatte er der kurdischen Bewegung die Lebenskraft genommen. Die Familie des Scheichs, die ihre Abstammung auf den Propheten zurückführt, genießt auch über den Kreis ihres engeren Heimatlandes hinaus das höchste Ansehen. Bei seinen Reisen zwischen Kurdistan, Constantinopel und Mekka war Obeidullah der Gegenstand überschwenglicher Verehrung seitens aller Mohamedaner gewesen. Das Mißtrauen Abdul Hamids übertrug sich nach dem Tode des Obeidullah auch auf dessen Sohn Abdulkadir, der bis zur Einführung der Verfassung in der Verbannung leben mußte. Erst der neuen Aera, die urteilslos jede dem ehemaligen Sultan mißliebige Person als unschuldigen Märtyrer ansah, verdankt er seine Berufung in den Senat.

Auch heute machen sich Anzeichen bemerkbar, daß die Kurden den gegenwärtigen Augenblick zur Geltendmachung ihrer nationalen Aspirationen für geeignet halten. In erster Linie mit bestimmend wird hierbei die Befürchtung sein, daß, ähnlich wie auf dem Berliner Kongreß, aus den Londoner Beratungen eine erneute Einmischung der Großmächte zugunsten der Armenier entstehen wird.

Daß in der Tat eine scharfe diplomatische Aktion pro Armenia, hinter der nur russischer Einfluß vermutet werden kann, bereits eingesetzt hat, habe ich Euerer Exzellenz anderweitig zu melden die Ehre gehabt. Noch ist das mazedonische Problem, das die europäischen Kanzleien seit Jahrzehnten fast ausschließlich beschäftigt hat, nicht endgültig gelöst, und schon tritt an dessen Stelle die armenische Frage mit ihren unabsehbaren Folgerungen. Mitglieder des Kabinetts beraten unter Hinzuziehung armenischer Notabeln über die in den ostanatolischen Vilajets einzuführenden Reformen. Ist auch bisher nicht bekannt geworden, daß auf die Regierung in dieser Hinsicht ein direkter Druck ausgeübt worden sei, so bestehen auf türkischer Seite jedenfalls ernste Besorgnisse vor einem Eingreifen Rußlands. Als Wortführer der Ententemächte tritt bisher Frankreich auf. Die hiesige Botschaft ist bemüht, den ehemaligen Patriarchen Ormanian zur Reise nach Paris zu veranlassen, um die Wünsche der armenischen Nation dort zu formulieren. Dieser lehnt bisher vorsichtigerweise die Mission ab, bevor er nicht mit den erforderlichen Vollmachten seitens der Pforte und der berufenen Vertretung der armenischen Nation ausgestattet ist und die Zusicherung erhält, daß die Ententemächte die Ausführung der in Aussicht genommenen Reformen auch in wirksamer Weise gewährleisten werden.

Eine Entwickelung der Dinge, die den ostanatolischen Provinzen eine geordnete Verwaltung und größere Ruhe und Sicherheit verschafft, aber auch im weiteren Verfolg leicht zu einer Ausdehnung des russischen Einflusses führen kann, ist den Kurden unerwünscht. Dem naiv denkenden und leicht nach äußeren Momenten urteilenden Orientalen gilt Deutschland noch immer als Gönner des absolutistischen Regimes; unsere Zurückhaltung in den Fragen der inneren türkischen Staatsverwaltung, namentlich in den Jahren der Armenierverfolgungen, hat diese Auffassung gerade bei den unmittelbar Beteiligten bestärkt. Deutschland, das sich seiner Sympathien für den Islam rühmt, erscheint daher auch hier dem Mohammedaner als einziger Retter.

Die öffentliche Meinung beginnt, sich mit der Möglichkeit ernster zu beschäftigen, daß die Aufteilung auch der asiatischen Türkei bereits in Europa erwogen wird. Ein einsichtiger und einflußreicher Armenier, der Sabahredakteur Kelekian, glaubt, daß diese Bewegung nicht aufzuhalten sein wird, und daß seine Volksgenossen, trotz aller ihnen in Rußland bisher zuteil gewordenen Bedrückungen, doch noch eine russische Herrschaft in Ostanatolien mit Befriedigung begrüßen würden.

Ob unter den heutigen Verhältnissen unsere Politik der absoluten Vorsicht und Zurückhaltung in allen kleinasiatischen Fragen, die den Intriguen und Bestrebungen der Tripelentente freie Bahn läßt, noch am Platze ist, möchte ich in Anbetracht unserer erheblichen wirtschaftlichen Interessen in Kleinasien bezweifeln.


Wangenheim



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