1913-10-30-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14082
Zentraljournal: 1913-A-21877
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 11/21/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 314
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Pera, den 30. Oktober 1913

Mit dem hierher durch den Telegraphen übermittelten Auszug der Sasonowschen Erklärungen zur anatolischen Reformfrage beschäftigt sich die heutige Presse in wenig freundlicher Weise. Während der Tanin sich noch etwas Zurückhaltung auferlegt, hält der Taswir-i-efkjar mit seinem Mißtrauen nicht hinter dem Berge.

Tanin führt aus, daß man in der Türkei sich schon sehr ernsthaft mit der Reformfrage beschäftigt habe, ehe Herr Sasonow seine Reise nach Westeuropa antrat. Nun lägen seine Erklärungen hierzu vor, aus denen besonders der Satz hervorsteche, daß die Reformen durchgeführt werden müßten, ohne der Souveränität der Türkei nahezutreten. In diesem Punkte werde jeder Osmane dem russischen Minister beipflichten. Sei es Rußland aber Ernst damit? Dann müsse es sich selbst sowohl jeder Einmischung in innere Angelegenheiten der Türkei enthalten, als auch im gleichen Sinne auf andere Großmächte einwirken. Dieser Grundsatz der Nichtintervention könne z.B. in der Frage der fremden Inspektoren betätigt werden. Wenn die Pforte diese nach eigenem Ermessen auswählen und berufen könne, dann werde die Rede von der Ausübung souveräner Rechte sein können; wenn aber diese Fremden durch die Großmächte präsentiert werden sollten, dann sei keine Rede mehr von Reformen, dann liege eine Intervention vor, dann werde Schaden und nicht Nutzen gestiftet. Schon das Reformprogramm der Mächte, von welchem Sasonow gesprochen habe, bedeute eine unzulässige Einmischung; derartige Reformen seien ein Unglück für die Türkei, welche durch sie des Rechtes im eigenen Hause verlustig gehe.

Größer noch als Rußlands Interesse an geordneten Zuständen in Anatolien sei das der Türkei selbst. Dieser solle man die nötige Ruhe lassen und ihre Arbeit nicht stören. Unverständlich bleibe den Türken ein russischer Minister des Äußern, der so wohllautende Erklärungen abgebe und gleichzeitig den Bau von Eisenbahnen und Straßen, der Grundbedingung für den Aufschwung des Landes, hinterteibe. Gerade in dem Augenblick, in welchem eine Verständigung mit Rußland abgeschlossen werden solle, könne der Begriff der "Reformen" nicht scharf genug umrissen werden.

Taswir-i-efkjar meint "timeo Danaos" und weist die Sasonow'sche Gabe recht grob zurück. Reformversuche der Großmächte in der Türkei wären für diese ebenso viele Schicksalsschläge, ebenso viele Angriffe auf das Türkentum und den Islam gewesen. Besonders stutzig müsse es jeden Osmanen machen, daß dieser Reformeifer sich nur für gewisse Rußland benachbarte Provinzen zeige, während das Bestreben der Pforte, im ganzen Reiche Reformen durchzuführen, auf Mangel an Verständnis, ja auf Widerstand stoße. Die Richtlinien der türkischen Politik in dieser Frage müßten folgende sein: Die Unterstützung derjenigen Großmächte, deren Uninteressiertheit über alle Zweifel erhaben sei, könne bei dem Reformwerk angenommen und müßte mit größter Energie nutzbar gemacht werden. Bedürfe man dabei fremder Sachverständiger, so müßten diese beschafft werden, woher es auch immer sei. Aber kein Vorschlag, der auch nur den winzigsten Teil der türkischen Unabhängigkeit bedrohe, könne auf Berücksichtigung rechnen, vielmehr sei es Pflicht der türkischen Regierung, ihn kategorisch zurückzuweisen. Daß aber diese aus eigener Kraft und aus eigenem Geiste Reformen einführen müsse, das könne nicht genug betont werden und sei dringend erforderlich.


Wangenheim



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