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Vorwort

Der Genozid an den Armeniern findet trotz der diesbezüglichen parteiübergreifenden Empfehlungen des Bundestages aus den Jahren 2005 und 2016 im Unterricht der deutschen Schulen immer noch nicht die angemessene Berücksichtigung.

Lehrpläne enthalten allerdings das allgemeine Thema „Völkermord“. Unter verschiedenen Fragestellungen wird es z. B. in den Fächern Geschichte, Deutsch, Religion, Politik behandelt. Wenn dabei der Genozid von 1915/16 an den Armeniern im Osmanischen Reich nur selten angesprochen und behandelt wird, liegt dies neben einer Zurückhaltung der für die Lehrpläne zuständigen Behörden auch an dem Fehlen von leicht zugänglichen Unterrichtsmaterialien. Diesem Mangel helfen die hier vorgelegten Texte, Bilder und Karten ab. Eine wiederholende theoretische Entfaltung allgemeiner didaktischer Überlegungen zum Völkermord wäre sicherlich reputierlicher als die schlichte Dienstleistung in Form der Bereitstellung einer Materialiensammlung zur Auswahl für den Unterricht. Lehrende benötigen jedoch beides. Da über die Theorie bereits viel Kluges vorgelegt wurde, kann hier die Unterstützung der praktischen Unterrichtsvorbereitung in den Vordergrund rücken.

Die Website Armenocide.net dient vor allem wissenschaftlichen Zwecken. Die dort zur Verfügung gestellten Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes bilden den Kern der folgenden Materialien. Sie sind in Hinblick auf den Völkermord von besonderer Bedeutung, da die Verfasser der Berichte grundsätzlich eine positive Einstellung zum Osmanischen Reich hatten. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Berichte österreichischer Diplomaten.

Viele der auf Armenocide.net edierten Dokumente lassen sich nach mehreren Erfahrungsberichten auch für Unterrichtszwecke nutzen.

Die folgenden Vorschläge für eine Auswahl erleichtern den Zugriff auf Gesuchtes. Gliederung und inhaltliche Schwerpunktsetzung resultieren aus Umfragen bei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte in u. a. Potsdam.

Meine eigenen Vorstellungen sind ausführlich dargestellt in dem mit Adrian Klenner herausgegebenen Band „Völkermord oder Umsiedlung? Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich“ sowie in dem Aufsatz: »Es handelt sich vielmehr darum, die Armenier zu vernichten« Der Genozid im Osmanischen Reich 1915/16. In: Historicum. Zeitschrift für Geschichte, Herbst 2007, S. 10 - 18 (=Zeitschrift des österreichischen Historikerverbandes, Themenheft „Armenien 1915). In diesen Publikationen und unter "Links" auf dieser Website finden Interessierte Hinweise auf weiterführende Literatur.

Für Unterrichtszwecke erschien es sinnvoll und erforderlich, die schriftlichen Quellen zu kürzen. Auch die Überschriften waren so zu ändern, dass sie den Inhalt der Texte nicht vorwegnehmen. Die Aussagen der Verfasser sollen nicht in der Überschrift vorgegeben und abgelesen, sondern von den Lernenden selbständig erarbeiten werden. Selbständigkeit bei der Erarbeitung von Inhalten durch die Schüler ist ein wesentliches Merkmal des Geschichtsunterrichts. Auf diesem Wege erworbene Qualifikationen sind grundsätzlich ebenso von Bedeutung wie die Kenntnis und ein Lernen von ´Fakten´. Eine Kürzung ist für schulische Zwecke unproblematisch, zumal es Nutzern bei einem großen Teil der Materialien unbenommen bleibt, sie ohne Mühe in der unbearbeiteten Form aus dem Gesamtbestand der auf Armenocide.net zur Verfügung stehenden Editionen zu entnehmen.

Nur für den Lehrer, um ihm für die unumgängliche Auswahl einen Überblick zu erleichtern, stehen zur ersten Orientierung im Raster vor den Überschriften der Texte einige Hinweise zu deren Inhalt. Diese Raster sind nicht für einen Ausdruck vorgesehen.

„Wie es eigentlich gewesen“ ist (Ranke), kann diese Quellensammlung so wenig zeigen wie irgendeine andere. Um Zustandekommen, Bedeutung und Aussage einer Quelle zu beurteilen, bedarf es einer Einordnung u. a. in ihren politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontext.

Die damit angesprochene Problematik, wie historisches Material zu entschlüsseln sei, ob es eindeutige Antworten liefern kann oder ob nicht die stets unumgängliche Selektion der Quellen und das erkenntnisleitende Interesse des Historikers die Beiträge statt zu einer Rekonstruktion der Vergangenheit zu einer subjektiven Konstruktion geraten lassen, ist hier weder zu klären noch zu entfalten. Ihre Bedeutung lässt es aber unumgänglich erscheinen, zumindest auf sie aufmerksam zu machen. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Aussage und Beweiskraft von Fotos, Statistiken und Karten. Solange bei Bildern weder der Fotograf noch die Umstände der Aufnahme bekannt sind, können sie im wissenschaftlichen Sinne nicht als ´Beweise´ angesehen werden. (Zur Komplexität von Bildanalysen aus der Zeit des Genozids vgl. z. B.: Krikorian, Abraham D., Taylor, Eugene L., Filling in the Picture: Postscript to a Description of the Well-Known 1915 Photograph of Armenian Men of Kharpert Being Led Away under Armed Guard www.groong.com/orig/ak-20110613.html. Siehe hierzu Abb. 3 bei Dokument 1.02.)

(Übrigens danke ich den Inhabern von Rechten an Fotos, Karten etc., die eine Verwendung für unterrichtliche Zwecke genehmigten, und bitte bei Problemen um Mitteilung.)

Nachdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass bei der in Quellen über den Völkermord von 1915/16 verwendeten Begrifflichkeit Obacht zu geben ist. Statt „Umsiedlung“ ist womöglich Vernichtung, statt „Ereignis“ Massaker, statt „Rebellen“ schlicht Armenier zu lesen. (Vgl. hierzu etwa die Dokumente 1.05 und 1.08.)

Die Begriffe „Völkermord“ und „Genozid“ gehörten 1915/16 nicht zum Wortschatz der Zeitzeugen. Sie sprachen von „Exterminierung“, „Auslöschung“, „Vernichtung“, „Massaker“. (Vgl. Dok. 5.04, Dok. 5.7, Dok. 5.10, Dok. 5.12, Dok. 6.05) .Englischsprachige Personen bezeichneten Vernichtungsaktionen als "holocaust", wenn dabei Feuer verwndet wurde. Das Wort war dem griechischen Text der Bibel entlehnt (holocauston – Brandopfer. (Vgl. Dok. 6.03 u. Dok. 6.09).

Satzbau, Rechtschreibung und Interpunktion der Dokumente wurden gegenüber dem Original dann geändert, wenn sonst Missverständnisse wahrscheinlich gewesen wären. Die Schreibung z. B. des Worts Mohammedaner mit doppelten und einem m wurde deshalb nicht vereinheitlicht. Zu beachten ist die Verschiedenartigkeit der Schreibung von Eigennamen und geographischen Bezeichnungen. Der Städtename Urfa etwa wird auch Ourfa geschrieben. In der internationalen Fachliteratur variieren selbst die Namen von Organisationen und deren Mitgliedern nicht unerheblich. Daschnakzagan, Taschnakisten, Taschnakzutionisten und Daschnaken bezeichnen z. B. den gleichen Personenkreis. Hier erschien im Interesse der Leser eine gewisse Angleichung sinnvoll. Zusätze des Herausgebers stehen in eckigen Klammern. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Punkte markiert.

Diese Materialiensammlung ist als Dienstleistung für Lehrkräfte konzipiert. Sie soll kein didaktisches Konzept vorgeben, sondern durch Bereitstellung verschiedenster Materialien nur die Vorbereitung des Unterrichts erleichtern.

Ich gestatte mir jedoch einen Wunsch: Im Unterricht mögen solche Gedanken berücksichtigt werden, wie sie der Zeitzeuge des Völkermords Armin T. Wegner 1921 formulierte:


„Wie sie Freunde des türkischen Volkes sind.“

Armin T. Wegner, ein Zeitzeuge des Völkermords, fragt nach Verantwortlichkeit und Schuld des Islam und des türkischen Volkes für die Vernichtung des armenischen Volkes (1921)

"Niemand wird den Islam dafür verantwortlich machen wollen. Neben Christus, Buddha, Laotse steht auch die Lehre Mohammeds, und wenn sie zu diesen Ereignissen beitrug, geschah es nur, weil man den Glauben des Islam dazu missbrauchte. Ist es der Lehre Jesus von Nazareths anders ergangen? Haben die Staaten Europas nicht seine Worte missbraucht, um in seinem Namen heimtückische und räuberische Kriege gegen wehrlose Völker zu führen. Haben sie nicht, um sich in den Besitz ihres Goldes, ihrer Gewürze zu setzen, die letzten Paradiese urwüchsiger und glücklicher Menschenstämme auf der Erde zerstört? …

Mag Talaat noch so sehr der Überzeugung gewesen sein, dass die Gedanken, die sich in seinem klugen Kopf bewegten, nur dem Wohl seines Landes galten, eine ´Vaterlandsliebe´, die sich über alle sittlichen Gebote hinweg zu Grausamkeiten berechtigt glaubt, hat mit der wahren Wohlfahrt der Völker nichts gemein. Sie ist keine Tugend, sondern ein Fluch, das blutrote Banner eines selbstsüchtigen Götzen, das man dem unmündigen Volk vor die Augen hält, um es wie einen harmlos grasenden Stier dadurch zu sinnloser Wut zu reizen.

Das türkische Volk in seiner Gesamtheit kann man als Schuldigen für die Vernichtung der Armenier nicht anklagen. Es hat diese Gräuel nicht gewollt, wenig davon gewusst, sie geduldet, selten sie gebilligt. Dafür zeugen die amtlichen Berichte deutscher Konsuln in Kleinasien, nach denen die Zahl der türkischen Beamten in der Provinz nicht gering war, die sich weigerten, die Befehle der ihnen vorgesetzten Behörde in der Hauptstadt auszuführen.

Die Freunde des armenischen Volkes sind dies aus dem gleichen Grund, wie sie Freunde des türkischen Volkes sind. Seine Lebensbedürfnisse, seine Gebräuche, seine Anmut, sein seelischer Reichtum sind uns nicht weniger teuer als die der Armenier und sie würden aufhören, ihre Freunde zu sein mit dem Augenblick, wo sie sich zu ähnlichen Grausamkeiten berechtigt fühlten, wie sie Talaat beging.

Wenn unser Mitgefühl im Augenblick stärker durch das armenische Schicksal ergriffen wird, geschieht es allein, weil das Unrecht, das den Armeniern während des Krieges widerfuhr, das größere war. Dieses Unrecht ist so über alle Vorstellungen hinaus unfassbar, dass ich nicht anstehe zu behaupten, wenn es wahr ist, dass Leiden die Menschen heiligt, dieses Volk, auch wenn es nicht jenen zähen Fleiß, jene Gelehrsamkeit und Gesittung besäße, die es auszeichnen, wenn es sogar die niedrige Gemütsart und Denkungsart hätte, deren es seine Feinde bezichtigen, ja was immer dieses Volk an noch schlimmeren Taten begangen hätte, als man sie ihm fälschlich zuschreibt – ich sage, dass es selbst dann für alle Zeiten geheiligt wäre durch die zermalmende Wucht des Schmerzes, den es ertragen musste."

Aus: Wegner, Armin T., Ein gerechtes Urteil. Bericht über den Prozess Talaat Pascha vor dem Schwurgericht des Landgerichtes zu Berlin am zweiten und dritten Juni 1921, in: Die Verbrechen der Stunde – die Verbrechen der Ewigkeit, Hamburg 2000, S. 80 f.