1915-01-02-DE-004
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Quelle: DE/PA-AA/R 1915
Zentraljournal: 1915-A-00436
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 01/04/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 10/23/2017


Der Leiter der Zentralstelle für Auslandsdienst (Jäckh) an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (Zimmermann)

Schreiben


Berlin, den 2. Januar 1915.

Euer Exzellenz, hochverehrter Herr Unterstaatssekretär!

Ihrem Wunsche gemäss überreiche ich Ihnen einen vertraulichen Bericht über die Beobachtungen und Eindrücke, die ich auf meiner Reise in der zweiten Hälfte des Dezember während meines Aufenthaltes in Bukarest, Sofia und Konstantinopel gewonnen habe.

I. Bukarest.

Meine Quellen sind rumänischerseits der rumänische Ministerpräsident Bratianu, der konservative Führer Margiloman [Alexandru Marghiloman] und einige Abgeordente zweiten Ranges; deutscherseits der Gesandte Freiher von Bussche, der Militärattaché Major [Günther] Bronsart von Schellendorf [Schellendorff], Konsul Tjaben und Professor Schlawe, der Präsident der deutschen Kolonie.

Mein Eindruck ist der: die rumänische Regierung rechnet mit der Wahrscheinlichkeit eines Sieges der Zentralmächte, sie wird deshalb kaum gegen Österreich-Ungarn , sicherlich nie gegen deutsche Truppen marschieren lassen. Sie kalkuliert so: ein Anschluss Rumäniens an Russland würde Rumänien vielleicht das ungarische Transsilvanien verschaffen können, zugleich aber sicherlich Rumänien in die Abhängigkeit eines Vasallen von Russland bringen müssen. Andererseits könnte Rumänien, wenn es im geeigneten Augenblick noch an die Seite der Zentralmächte tritt, dreierlei gewinnen: erstens das russische Bessarabien, zweitens die Sicherung einer selbständigen Politik gegenüber Russland und drittens die grössere Aussicht eines so vergrösserten und verstärkten Rumäniens auf eine leichtere Verständigung mit Österreich-Ungarn über die transsilvanische Frage. Das ist die Rechnung der Majorität des Kabinetts Bratianu, nicht aber des Finanzministers Costinescu, der den russophilen Einschlag im Kabinett darstellt und dessen Söhne russische Gelder empfangen und auch an dem gegenwärtigen System der Transport-Compensation von Unternehmer zu Unternehmer mit Verdienst beteiligt sind. Der König selbst fühlt sich unsicher und hält sich zurück. Die Königin zeigt Gleichgiltigkeit gegenüber Frankreich und gegenüber Russland und gelegentliche Sympathie für England, nimmt aber mit aktivem Interesse die Zeitungsausschnitte des deutschen Gesandten entgegen, der dabei Wert darauf legt, gerade die englische Politik ins richtige Licht zu bringen. In der Frage des Nichtdurchlassens von deutschem Kriegsmaterial für Bulgarien und Türkei verteidigt sich Bratianu mit dem Hinweiss auf die öffentliche Meinung, gegen die er noch nicht stark genug sei. Die äussere Politik der rumänischen Politiker ist ein Instrument für innerpolitische Auseinandersetzungen: so gebärdet sich Tacunescu, auf den Kiderlen noch viel gegeben hat, heute pro-russisch, weil seine Opposition darin mit der öffentlichen Meinung zusammengeht.

Die öffentliche Meinung betätigt sich anti-österreichisch infolge der obstinaten Rumänienpolitik Tiszas [Ex-Ministerpräsident Ungarns István Tisza von Borosjenö et Szeget] und weil sie Österreich für einen schwachen, absterbenden Staat hält, und prorussisch, weil sie russische Truppen siegreich an der rumänischen Grenze sieht.

Ausserdem weiss sie, die im Grund romanisch geartet ist, sich von französischen Vortragsrednern geschmeichelt und ist von russischen Pressgeldern verführt. Das gilt in der Hauptsache für die städtische Bevölkerung, nicht so für die ländliche. Rumänien fühlt sich als enfant gâté Europas und hat etwas wie Grössenwahn. In der Bearbeitung und Vorbereitung der öffentliche Meinung Rumäniens scheint vor dem Krieg deutscherseits viel oder vielleicht alles versäumt worden zu sein [Bemerkung Zimmermann: Natürlich. Das wird H. Jäckh ja wissen]. Seit dem Krieg hat die deutsche Politik ein Blatt gegründet (die Ziua) und auf die Sera und die Minerva Einfluss gewinnen können. Alle drei Blätter stellen zusammen etwa 50000 Abonnenten dar gegenüber den mehr als 200000 Abonenten des Adeverul und der Diminzata, die dem Konzern Mille-Tacunescu gehören. Die deutschfreundliche Ziua hat den Wunsch, mehr als bisher besondere Korrespondenten aus Berlin, Wien, Rom und Konstantinopel zu bekommen und die Wolff-Depeschen, die sie bisher durch die deutschfeindliche Agence roumaine beziehen muss, direkt und damit auch früher zu erhalten. Die Beeinflussung der Kinos und die Verwendung von deutschem Bildermaterial, von dem aus Berlin eine geeignetere Auswahl als bisher gewünscht wird, beginnt langsam zu funktionieren.

Für eine rumänische Entscheidung zugunsten der Zentralmächte kann in der Zukunft dreierlei entscheidend werden: erstens vielleicht die Wirkung der wirtschaftlichen Isolierung Rumäniens durch die Dardanellensperre, durch die Sprengung der Wardarbrücke und durch eine bulgarische Schliessung der Linie nach Dedeagatsch. Nebenbei gesagt: eine Bedrohung von Constanza durch die „Goeben“ scheint wenig Wirkung zu versprechen, weil dort wenig rumänische Werte und viel mehr europäische, deutsche Kapitalien, vernichtet würden. Mehr noch deutsch-österreichische Waffenerfolge gegen Russland, und drittens am allersichersten das Erscheinen deutscher Truppen, die überall auf dem Balkan mit ebenso viel Bewunderung wie Furcht genannt werden, an der rumänischen Grenze. Darüber später.

II. Sofia.

Quellen sind bulgarischerseits der Ministerpräsident Radoslawow, der Finanzminister Tontschew und General Sawow (der Generalissimus im Balkankrieg und wahrscheinlich auch der künftige Befehlshaber); deutscherseits der Gesandte von Michahelles, der Militär-Attaché Major [Horst] Freiherr von der Goltz, Sanitätsrat Dr. Grätzer (der Leibarzt des Königs), Direktor Kaufmann (früher Vertreter von Krupp) und Dr. von Mach (Vertreter der Kölnischen Zeitung); türkischerseits der Gesandte Fethi Bey.

An der bulgarischen Grenze begegnet man Emblemen, die die vier Landesfarben von Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien in einer Vierbund-Kokarde vereinigen und von den Bulgaren getragen werden. Der bulgarische Wille scheint allgemein der zu sein, aus diesem Krieg Macedonien für Bulgarien zu gewinnen - aber nicht von Dreiverbands-Gnaden, der gelegentlich auch die Linie Edos-Midia anbietet, sondern im Anschluss an den neuen „Dreibund“ Deutschland, Österreich und Türkei. Der Eintritt in den Krieg wird auf den Zeitpunkt berechnet, wo Österreich von Serbien aus Bulgarien die Hand reichen könnte und wo Bulgarien finanziell und militärisch kriegsbereiter wäre als heute. Militärisch scheint Bulgarien kriegsfähiger zu sein, als die Regierung zugibt: Munitionsmaterial soll mehr vorhanden sein, als offiziell zugestanden wird. Die finanziellen Verhandlungen werden bald zu einem Abschluss kommen müssen, da Ende Januar die bulgarische Regierung kein Geld mehr haben wird. Die bulgarischen Minister weisen mit Selbstbewusstsein darauf hin, dass die bisherige bulgarische Neutralität zweierlei zugunsten Deutschlands erreicht hat: erstens, dass die Türkei imstande war, an die Seite Deutschlands zu treten und zweitens, dass Rumänien über die bulgarischen Absichten im Ungewissen blieb und dadurch in Schach gehalten wurde. Der König selbst scheint etwas ängstlich zuwarten zu wollen. Was er von einem siegreichen Russland zu erwarten hat, weiss er: die Absetzung! Auch für die bulgarische endliche Entscheidung müsste wie für Rumänien das erfolgreiche Erscheinen deutscher Truppen in Serbien oder an der serbischen Donauecke ausschlaggebend werden.

Es ist mir zur festen Überzeugung geworden, dass Deutschland schon vor Wochen es hätte erreichen können, Bulgarien sowohl gegen Serbien wie gegen Russland marschieren zu lassen - wenn deutsche Truppen die Donauecke freigemacht hätten. Es gab eine Zeit, wo an jener Ecke ganz geringe serbische Streitkräfte standen und wo etwa 20000 deutsche Soldaten ausgereicht hätten, die Verbindung zwischen Österreich und Bulgarien herzustellen und zu sichern. Das hätte bedeuten können und müssen: erstens die Versorgung Bulgariens mit deutschem Kriegsmaterial, zweitens das gleiche für die Türkei (darüber später) und drittens die Möglichkeit eines Ultimatum an Rumänien, gegen Russland sich zu entscheiden. Das hätte eine deutsch-österreichisch-rumänisch-türkische Streitmacht von mehr als 1 Million Soldaten gegen Südrussland nach Bessarabien und gegen die Ukraine geführt, also in das Gebiet Russlands, in dem allein es tödlich zu treffen ist. Deutschland kann zehn Jahre lang in Warschau sitzen und Polen besetzt halten, ohne Russland zu einem uns genehmen und in der Zukunft sicheren Frieden zu zwingen. Die Ukraine, das wirtschaftlich reichste Gebiet Russlands, die Kornkammer, das Kohlenbecken und das Erzlager für Russland ist „das Ägypten Russlands“. Dort allein kann es entscheidend getroffen und geschlagen werden. Kiew ist entscheidender als Warschau. Dazu aber ist bulgarische, rumänische und türkische Mitwirkung nötig; die bulgarische wohl in der Hauptsache gegen Serbien und gegen Griechenland, dessen Militärkraft quantitativ und qualitativ als die geringstwertige auf dem Balkan von allen Kennern eingeschätzt wird. Österreich ist der serbischen Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Darum muss Deutschland auch dort diese Leistung vollbringen. Deutschland hätte eine solche Entscheidung Bulgariens und Rumäniens längst schon erreichen können und müssen, wie gesagt, durch eine verhältnismässig geringe Anzahl deutscher Truppen an der serbischen Donauecke. Heute erscheint die Aufgabe der Freimachung des serbischen Weges aus klimatischen und militärischen Gründen viel schwieriger; auch kann die Gefahr dazu kommen, dass Russland seinerseits von Kischinew aus mit Truppen Rumänien bedroht und dieses seinerseits zu einer Entscheidung gegen Österreich-Ungarn zwingen will, aber trotzdem: Jenes Ziel muss noch erreicht werden. Dieser Weltkrieg ist aus dem Orient gekommen (aus dem Druck Russlands gegen Konstantinopel), und er wird im Orient entschieden werden müssen: in Ägypten gegen England und in der Ukraine gegen Russland.

Die öffentliche Meinung Bulgariens ist durchaus deutschfreundlich. Der deutsche Einfluss in der bulgarischen Presse wäre aber noch auszubauen: am besten wohl durch eine planmässige Ausgestaltung der bestehenden „Bulgarischen Handelszeitung“, die jetzt ein kleines Blättchen ist, aber durch die Anstellung eines bulgarischen und eines deutschen Redakteurs wirkungsvoll und einflussreich gemacht werden kann. Auf Wunsch stelle ich hierfür einzelne Vorschläge zur Verfügung.

Ebenso ist es wünschenswert und nötig, dass eine deutsch-bulgarische Vereinigung an die Arbeit geht. Eine solche soll in Berlin gegründet sein, ist aber in Sofia noch ganz unbekannt. Sie hätte jetzt kulturelle und wirtschaftliche Aufgaben in Angriff zu nehmen. Auch hierfür stehe ich mit Vorschlägen, die mir von interessierten Bulgaren gegeben worden sind, zur Verfügung.

III. Konstantinopel.

Quellen sind türkischerseits Minister Talaat Bey (der zur Zeit den Kriegsminister Enver Pascha und den Marineminister Djemal Pascha vertritt), der Scheich ul Islam Hairi Bey, der Unterrichtsminister Schukri Bey, Oberst Halil Bey (der Onkel Enver Paschas) und eine Anzahl türkischer Parlamentarier und Politiker; deutscherseits der Botschafter Freiherr von Wangenheim, der Botschaftsrat von Kühlmann, Dragoman Dr. Weber, Kapitän Humann, Admiral Souchon, Admiral von Usedom, Feldmarschall General Liman von Sanders, der Financier Wassermann u.a.

Der sachliche Eindruck ist durchaus erfreulich: unsere deutsche Stellung in Konstantinopel ist fest und sicher. Ein Gewinn scheint mir heute schon festzustehen: eben der Gewinn der Türkei für die wirtschaftliche Organisation und für die politische Leitung durch Deutschland. Was Friedrich List vor drei Generationen gesehen und gezeigt hat, ist jetzt endlich in Kleinasien für uns herangereift. Die Jungtürken sind zum ersten Male, seit ich seit 1908 jedes Jahr zweimal mit ihnen verhandle, sich der Grenzen ihrer Kraft bewusst. Sie erbitten jetzt geradezu die deutsche Organisation für ihr Staatswesen. Beispiele: die Flotte, die sie auch nach dem Krieg nicht selbst ausbauen wollen, weil sie einsehen, dass die Arbeit einer Generation dazu gehört, sodass sie eine Flotte nunmehr durch Übernahme weiterer deutscher Schiffe samt deutscher Mannschaften sich verschaffen wollen. Hierher gehört auch die Werftanlage in Stenia und in Ismid: Krupp und Blom & Voss sollen sie herstellen, and man drängt in Konstantinopel jetzt auf die deutsche Entscheidung in dieser Frage. Ebenso Schulpolitik; auch hierfür ist jetzt Hilfe erwünscht: ich habe darüber einen besonderen Bericht bereits eingereicht. Die Vorbereitung einer wirklichen Ottomanisierung der Banque Ottomane macht Fortschritte. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel kann sich als eine Art Reichskanzlei für die Türkei fühlen und täte gut daran, planmässig besondere Arbeitsabteilungen für die verschiedenen Aufgaben zu organisieren.

So erfreulich dieser durch unsere deutsche Politik gesicherte Gewinn ist, so unerfreulich ist der Eindruck von den persönlichen Beziehungen zwischen den Leitern der deutschen Arbeit in Konstantinopel, insbesondere zwischen dem Botschafter und dem General Liman. Es ist schon in normalen Zeiten unverständlich, dass zwei so wichtige Funktionäre auf einem so wichtigen Posten sich gegenseitig nicht verständigen können, es erscheint aber gegenüber der schweren Kriegspflicht jetzt geradezu unerträglich und gefahrvoll, dass diese beiden Persönlichkeiten nicht nur nicht zusammenarbeiten, sondern sogar aneinander vorbei, ja gegeneinander wirken. Die „Schuld“ wird auf beiden Seiten zu suchen sein. Aber wie dem auch im einzelnen sei - es ist ein Unding und, wie gesagt, geradezu eine Gefahr, dass dort so fortgewirtschaftet wird. Der Botschafter erfährt nichts von des Generals Absichten, und so militärisch sie auch formell sind, sie verfolgen doch politische Ziele. Und der General weiss nichts von den Zielen der Botschaft. In der Griechenlandpolitik beispielsweise verfolgen sie entgegengesetzte Ziele: der ein greift mit harter Hand zu, der andere sucht versöhnlich zu wirken. Auch die enge Fühlung zwischen General Liman und der Marine fehlt, und dieser Mangel hat bereits wiederholt zu Verlusten geführt. Es müsste doch zu erreichen sein, dass regelmässige Aussprachen festgesetzt werden, in denen der Botschafter, der General und der Admiral ihre Absichten und Ziele sich mitteilen, sodass also eine Art hauptquartiermässige Beratung wöchentlich ein oder zweimal zustandekommt. Nichts von alledem geschieht: Botschafter und General sehen sich nicht mehr und kennen sich nicht mehr. Parteien bilden sich für die eine und für die andere Gruppe und Kräfte werden hierüber und darüber vergeudet. So wird der Türkei in dieser schweren Zeit und auf diesen schwierigen Posten ein Bild „deutscher Einigkeit“ geboten! Auch die Ankunft des Generalfeldmarschalls Freiherrn von der Goltz hat daran noch nichts geändert. Es muss erreicht werden: entweder dass Botschaft und General sich zu gemeinsamer Kriegsarbeit verständigen und zusammenarbeiten, oder aber dass der General auf den Kriegsschauplatz kommandiert wird.

Militärisch ist der Eindruck von den Türken gut. Die Arbeit der Militärmission hat segensreich gewirkt und wird allgemein anerkannt. Sie ist weithin bemerkbar. Enver Pascha hat trotz den beiden Kriegen der Türkei eine numerisch ansehnliche Armee aus dem Land zusammengeholt; er selbst spricht von 1300000 Mann mit 800000 Gewehren. Die Qualität ist sehr verschieden, die besten Truppen sind die Korps von Konstantinopel und Adrianopel, die noch garnicht in die Kriegsoperationen eingegriffen haben. Was bisher im Kaukasus erfolgreich ist und auch was jetzt gegen Ägypten in Marsch gesetzt ist, ist bisher zweite Qualität. Für die Dauer der kriegerischen Unternehmungen erhebt sich aber bereits das Schreckgespenst des Munitionsmangels, besonders für die Dardanellen. Wohl ist es möglich, dass die Armeen im Kaukasus und gegen Ägypten mit „Halbdampf“ vorangehen und mit ihrer Munition haushalten. Aber wenn mir Admiral Souchon sagt, dass die Dardanellen eigentlich nur für ein Gefecht genügend Munition haben, dass die Schnellfeuer-Kanonen auf den türkischen Kanonenbooten 7 Schuss, also Munition für eine Minute haben, so kann man die Besorgnis vor einer Gefährdung der Türkei durch eine Forcierung der Dardanellen nicht mehr los werden. Wiederum der serbische Weg! Je mehr man diese Zusammenhänge in Bukarest, in Sofia und in Konstantinopel selbst erlebt und durchdenkt, je weniger kann man verstehen, dass es irgendeine Persönlichkeit gibt, die nicht sofort das vollste Verständnis für die Notwendigkeit der Öffnung des serbischen Weges nach Bulgarien und Türkei hat und sofort alle notwendigen Folgerungen daraus zieht. Die Nichtherstellung des serbischen Verbindungsweges von Österreich nach Bulgarien kostet uns heute schon die bisherige Zurückhaltung Bulgariens und die bisherige Unsicherheit Rumäniens, und sie kann uns noch die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft kosten - in dem Augenblick, wo eine munitionsleere Türkei Frieden schliessen muss, vielleicht sogar auf unseren eigenen freundschaftlichen Rat hin!

Nebenbeibemerkt - würde die östereichisch-bulgarisch-türkische Verbindung auch für Deutschland Produkte aus der Türkei sichern, so besonders das für uns notwendige Kupfer aus Arganamaden.

Bei manchen Politikern in Konstantinopel (und zwar bei deutschen) wird die Möglichkeit eines deutsch-russischen Separatfriedens erwogen, mit folgender Berechnung für die Türkei: die Türkei soll dann Russland die Durchfahrt durch die Dardanellen einräumen, und sie könne das ertragen, wenn die Bosporus- und Dardanellen-Befestigungen von Deutschland so modernisiert und so aufgebaut würden, dass sie einem Missbrauch der russischen Durchfahrt unmöglich machen könnten. Russland soll dann mit Deutschland die Integrität der asiatischen Türkei garantieren. Mir persönlich scheint es, dass die Türkei für einen solchen Friedensschluss kein Verständnis haben würde. Es müsste denn sein, sie könnte ihre türkischen Grenzen so weit ins russische Kaukasusgebiet hinein vorrücken, dass dadurch die Türkei so erfolgreich erscheinen kann, dass die Freigabe der Dardanellen nicht wie eine Preisgabe des Besiegten, sondern wie ein Sicherheitsgefühl des Siegers wirken kann.

Der heilige Krieg schient im Grossen und Ganzen zu funktionieren - mit Ausnahme von Süd-Mesopotamien: dort haben sich die arabischen Stämme der englisch-indischen Armee angeschlossen. „Bisher“ - sagte mir Oberst Halil Bey (wie gesagt, Enver Paschas Onkel, der jetzt das Kommando einer türkischen Division übernommen hat, die er nach Persien führen will) und meint damit, dass die Araber mit den Erfolgen gehen! Wenn die türkischen Verstärkungen in Bagdad eingetroffen seien, werde sich auch dort das Blatt wenden können. Am erfolgreichsten hat der heilige Krieg bislang im Kaukasus gewirkt. Die Einschliessung des russischen Batums ist ohne türkisches Militär gelungen, nur durch 100 türkische Gendarmen und durch etwa 40 000 bewaffnete Mohammedaner aus dem Kaukasus, die dem Ruf des heiligen Krieges gefolgt sind. Über die Einzelheiten der bisherigen Wirkungen des heiligen Krieges in den islamischen Gebieten und über den Fortgang der verschiedenen deutschen Expeditionen berichte ich in einer besonderen Niederschrift. An dieser Stelle nur noch so viel, dass es empfehlenswert erscheint, für einen Nachrichtenverkehr mit Ägypten eine Stelle in Piräus, für Tripolis in Neapel, Brindisi und Syrakus und für Marokko in Barcelona und Algesiras einzurichten.

Noch ein Wort über die türkische Presse: sie gibt sich naturgemäss deutschfreundlich, teilweise aus Überzeugung, teilweise mit Rücksicht auf die strenge Zensur. Diese Haltung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Reihe einflussreicher Publizisten und Politiker im Stillen räsonnieren und agitieren, aus dem einfachen Grunde, weil sie ihre bisherigen englischen und französischen Rentenbezüge verloren haben. In Konstantinopel wirkt aber das räsonnierende Wort im Kaffeehaus oft weiter und tiefer als die geschriebene Zeile in der Zeitung, deren Abhängigkeit leichter kontrollierbar und offenbarer ist als diejenige einzelner Personen. Die Botschaft hat bisher in den fünf Kriegsmonaten für die gesamte Türkei nur M 20 000 für Presszwecke ausgegeben. [Anmerkung Zimmermann: Woher weiß den H. Jäckh das?] Das scheint mir viel zu wenig zu sein. Man müsste mit einem monatlichen Etat von etwa M. 10000 rechnen dürfen. Wir müssten damit die bisher von Frankreich und von England dotierten Publizisten berücksichtigen, nicht in einmaligen Zuwendungen, sondern in periodischen Raten, und dann auch beginnen, die Provinzpresse heranzuziehen, die bisher von uns fast ganz ignoriert worden ist. Eine dahingehende Bitte ist auch bereits aus Damaskus eingegangen. Der in Pera eingerichtete Depeschen- und Bildersaal erfreut sich grosser Beachtung. Ich habe mir erlaubt anzuregen, dass auch in Stambul für die türkische Bevölkerung etwas ähnliches organisiert wird, und habe selbst noch die Vorbereitungen einleiten können. Weitere Vorschläge für die Versorgung der türkischen Presse mit Korrespondenzen und mit geeigneterem Bildermaterial reiche ich bei der Zentralstelle für Auslandsdienst ein.

[Anmerkung Zimmermann: Den Anregungen wird, soweit sie beachtenswert erscheinen, von hier aus Folge gegeben.]

Zu einer persönlichen Besprechung und Ergänzung des einen oder anderen Punktes stehe ich jederzeit mit Freuden zur Verfügung.


In aufrichtiger Verehrung
Ihr getreuer
Jäckh.



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