Im Anschluss an den Bericht vom 29. v.Mts. BN. 24632
Die Angaben des obenbezeichneten Berichts über die Verhältnisse der Armenierverschickung in der Gegend von Der-es-Sor sind mir inzwischen aus andern vertrauenswürdigen Quellen im wesentlichen bestätigt worden. So berichtete mir ein soeben von dort zurückgekehrter deutscher Angestellter einer amerikanischen Firma, der gelegentlich einer Geschäftsreise die meisten dortigen Lager besucht hat, Folgendes:
Für den Unterhalt der in den Lagern Untergebrachten tut die Regierung garnichts. Die Lager sind fast durchweg entfernt von Städten und Dörfern. Deshalb ist die Versorgung mit Nahrung selbst für den, der noch Geld hat, äusserst schwer. Sie beschränkt sich auf das, was die arabischen Bauern täglich an Brot, Melonen usw. ins Lager bringen, d.h. eine ganz unzureichende Menge. Viele leben nur von Melonen, die in jenen Gegenden reichlich wachsen, und die sie mit Schale und Kernen essen. Als ich in einem kleinen Lager Brot verteilte, benahmen sich die Leute wie die wilden Tiere; ich musste flüchten und die Verteilung durch Gendarmen vornehmen lassen. Wer kein Geld hat, verhungert. Das Papierpfund gilt 45 Piaster. Aber man weist Unterstützung in Geld sogar zurück und schreit nach Brot. Ich sah Leute, die Gerstenkörner aus dem Pferdemist zum Essen heraussuchen.
Solange die Verschickten noch Geld haben, lässt man sie in ihrem Lager. Ist es damit zuende, werden sie gegen Der-es-Sor abgeschoben. Dabei reisst man rücksichtslos Familien auseinander. Bei El-Hammam arbeiten 6-700 armenische Männer ohne Familien an Regierungsbauten. Auch sie sehen übrigens ganz verhungert aus.
Die Lagerinsassen setzen sich aus Angehörigen aller gesellschaftlichen Schichten zusammen. Ich wurde bei meinen Besuchen vielfach auf französisch, englisch und deutsch angesprochen; auf deutsch von Zöglingen deutscher Schulen und Waisenhäuser. Viele Flüchtlinge versuchen in andere Lager zu flüchten, die näher bei Ansiedlungen liegen und daher eher Nahrungsgelegenheit bieten. Auf solche Flüchtlinge fahnden beständig Gendarmen. Wer gefasst wird, gilt als verloren.
Die Winterkälte wird unter den Verschickten wohl endgiltig aufräumen.
Was das Schicksal der von Der-es-Sor weiter Verschickten angeht, die nach amtlicher Angabe nach Mossul gehen, so habe ich mich beim K. Konsulate Mossul erkundigt, wieviel Verschickte von Der-es-Sor in den letzten Monaten schätzungsweise angekommen seien. Nach der daraufhin erteilten Auskunft sind am 15. April vier Transporte auf zwei Wegen von Der-es-Sor abgegangen und, 19000 an der Zahl, in einem Lager am Flusse Chabur vereinigt worden. Am 22. Mai, also 5 Wochen später, sind von diesen Transporten etwa 2500, darunter auch einige hundert Männer, in Mossul angelangt. Ein Teil der Frauen und Mädchen ist unterwegs an die Beduinen verkauft worden; alles uebrige ist durch Hunger und Durst unterwegs umgekommen.
Seit 3 1/2 Monaten sind demnach keine neuen Transporte in Mossul angekommen. Auch diese Tatsache dürfte die Volksmeinung in Der-es-Sor und die ihr entsprechenden tatsächlichen Angaben bestätigen, dass unter der Herrschaft des neuen tscherkessischen Mutessarrifs von Der-es-Sor mit den weiter Verschickten neuerdings im Euphrat-Chabur-Winkel kurzer Prozess gemacht wird.
Die Auflösung der hiesigen Waisenhäuser für Kinder umgekommener Verschickter hat noch nicht begonnen. Jedoch hat der Vertreter des hiesigen Verschickungskommissars der einen leitenden Schwester jetzt auch amtlich erklärt, diese Waisen würden in ein neues grosses nationales Waisenhaus in Konia verbracht werden; dort würden sie selbstredend türkische Namen bekommen und als Türken (d.h. Muhammedaner) erzogen werden.